Stärkt oder schwächt die Neutralität die Sicherheit der Schweiz?
Sowohl auf der Website als auch in der Broschüre stehen Ihnen Unterlagen zur Verfügung, um sich auf die Podiumsdiskussion vorzubereiten.
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Hinweis zum Vorgehen
Die Unterlagen sind thematisch geordnet (empfohlene Reihenfolge):
Hinweis: In der Broschüre finden Sie auf S. 73 Platz für Ihre Notizen.
- Seite74
C1 Grundlagen der Schweizer Neutralität
- WEB
C2 Aktuelle Debatten um die Neutralität
C2
Aktuelle Debatten um die Neutralität
Inwiefern ist die Schweizer Neutralität in der Bundesverfassung verankert?
Die Neutralität wird in den Artikeln 173 und 185 der Bundesverfassung erwähnt:
Sie [die Bundesversammlung] trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz. (Art. 173 Abs. 1 Bst. a BV)
Der Bundesrat trifft Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz. (Art. 185 Abs. 1 BV)
Parlamentarischer Vorstoss zur verstärkten Verankerung der Neutralität in der Bundesverfassung
Die Neutralität wird als eine der Aufgaben der Bundesversammlung (Parlament) und des Bundesrates in der Bundesverfassung (BV) erwähnt. Der ehemalige Nationalrat Ernst Schibli (SVP) beauftragte den Bundesrat 2005 im Rahmen einer von 50 Nationalrät:innen mitunterzeichneten Motion damit, die Neutralität zusätzlich in Artikel 54 BV zur Aussenpolitik als Staatsziel des Bundes wie folgt zu verankern: «Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit und die immerwährende bewaffnete Neutralität der Schweiz sowie für ihre Wohlfahrt.»
Dieses Vorhaben begründete der Motionär folgendermassen:
Die Neutralität ist in der schweizerischen Bevölkerung sehr gut verankert. Neue Umfragen zeigen, dass gegen 90 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer die Neutralität als sinnvoll erachten und sogar stolz darauf sind. Dennoch sind in den vergangenen Jahren das Neutralitätsrecht und die Neutralitätspolitik dauernd verwässert, relativiert und abgebaut worden. Dabei wäre die Neutralität schon heute keine Marotte einiger absonderlicher Ewiggestriger, sondern gültiges Verfassungsrecht: Artikel 173 BV auferlegt der Bundesversammlung die Wahrung der Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz. Artikel 185 BV tut genau das Gleiche für den Bundesrat. Da die Nennung der Neutralität bei den Behördenaufgaben aber offensichtlich nicht genügt und nicht mehr ernst genommen wird, soll die Neutralität neu auch in Artikel 54 BV ausdrücklich verankert werden. […]
Der Bundesrat beantragte in seiner Stellungnahme die Ablehnung der Motion:
[…] Die Neutralität ist ein wichtiges Mittel zur Bewahrung der Souveränität des Landes. Allerdings haben es die Urheber der Verfassungen von 1848, 1874 und 1999 bewusst vermieden, die Neutralität unter den Zielen des Bundes zu erwähnen oder gar, wie es der Motionär anregt, unter den Grundsätzen der Aussenpolitik. Die Protokolle der Vorbereitungsarbeiten zur ersten Bundesverfassung von 1848 präzisieren es ihrerseits wie folgt: ‹Die Neutralität (ist) ein Mittel zum Zweck; sie (ist) eine dermalen angemessen erscheinende politische Massregel, um die Unabhängigkeit der Schweiz zu sichern …› […]
Die dauernde Neutralität hat sich als Maxime der Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz bewährt. […] Angesichts dessen, dass die Neutralität bereits ausdrücklich an zwei Stellen in der Verfassung erwähnt wird, würde eine dritte Erwähnung im Artikel 54 keinen Mehrwert hinzufügen.
Es bleibt noch zu unterstreichen, dass der Status der Schweiz als neutraler Staat keiner zusätzlichen Garantie bedarf, da er im Aussenverhältnis von sämtlichen Staaten der Welt und von der Uno akzeptiert und anerkannt ist. Die Schweiz gilt im Ausland als ein glaubhafter neutraler Staat, weil die Neutralität vom Bundesrat konsequent in allen Situationen umgesetzt wird, die es erfordern, so z.B. im letzten Irakkonflikt [2003]. […]
Die Motion wurde 2009 abgeschrieben (nicht weiterverfolgt), weil sie innerhalb der vorgesehenen Frist nicht abschliessend behandelt worden war.
2022 lancierte ein Initiativkomitee die eidgenössische Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)», welche die Forderungen von Ernst Schiblis Motion im Prinzip weiter verschärfen will.
Russlands militärischer Angriff auf die Ukraine, 24. Februar 2022
Die fortschreitende Invasion der Ukraine durch Russland veranlasste den Bundesrat – nach anfänglichem Zögern – am 28. Februar 2022 dazu, sich den Wirtschaftssanktionen der EU gegen den russischen Aggressor anzuschliessen. Die Aussenpolitische Kommission des Ständerates beauftragte daraufhin den Bundesrat im Rahmen eines Postulates damit, seinen Entschluss in einem Neutralitätsbericht zu rechtfertigen:
Der Bundesrat wird beauftragt, dem Parlament einen aktuellen departementsübergreifenden Neutralitätsbericht zu unterbreiten. Er behandelt dabei die Grenzen qua [gemäss dem] Neutralitätsrecht (z.B. Überflüge, Waffenlieferungen, NATO-Mitgliedschaft oder -kooperation) und die beabsichtigte Nutzung des Handlungsspielraums der Neutralitätspolitik (Sanktionen: Verhängung und Vollzug).
Der Bundesrat reagierte darauf mit einem Bericht («Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik», 26. Oktober 2022) sowie der folgenden Stellungnahme zu konkreten Fragen (Auswahl):
Hat der Bundesrat mit seinem Entscheid vom 28. Februar 2022, die Sanktionen der EU gegen Russland zu übernehmen, die Neutralität der Schweiz aufgegeben?
Nein, keineswegs: An der Neutralität der Schweiz ändert sich auch mit der Übernahme der EU-Sanktionen nichts.
Die Neutralität im engeren Sinne, also das Neutralitätsrecht, befolgt die Schweiz nach wie vor uneingeschränkt. Sie begünstigt keine Kriegspartei militärisch.
Unter der Neutralität im weiteren Sinne versteht man die Neutralitätspolitik. Sie umfasst alle Massnahmen, die die Schweiz zum Schutz der Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit ihrer Neutralität ergreift. Die Neutralitätspolitik gewährt einen breiten Gestaltungsspielraum, um auf internationale Entwicklungen reagieren zu können. Die militärische Aggression Russlands auf die Ukraine stellt eine schwerwiegende Verletzung elementarer Völkerrechtsnormen dar und ist in der neueren Geschichte Europas einzigartig. Dem hat der Bundesrat im Rahmen seines politischen Gestaltungsspielraums beim Entscheid zur Übernahme der EU-Sanktionen Rechnung getragen. […]
Muss man die Neutralität aufgrund des Krieges in der Ukraine grundsätzlich neu überdenken?
Neutralität ist keine starre Grösse, sondern ein aussen-, sicherheits- und auch wirtschaftspolitisches Instrument, das der jeweils herrschenden politischen Grosswetterlage angepasst werden muss. Der Bundesrat hat sein Neutralitätsverständnis auch in der Vergangenheit regelmässig überprüft und angepasst wie mit dem Neutralitätsbericht von 1993. Der Krieg in der Ukraine stellt die bestehende internationale und vor allem europäische Sicherheitsordnung infrage.
[…] Die Entscheide, die der Bundesrat seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts getroffen hat, wie zum Beispiel die Übernahme der Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland, sind mit der Neutralitätspolitik der Schweiz vereinbar. Diese lässt der Regierung einen hinreichend grossen Handlungsspielraum, um auf die Ereignisse in Europa seit dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts zu reagieren.
Es wird gefordert, dass die Schweiz näher mit der Nato zusammenarbeitet oder sogar der Nato beitritt. Ist das mit der Neutralität vereinbar?
Für alle NATO-Staaten gilt zwingend die sogenannte Beistandspflicht. Wird ein Mitglied angegriffen, müssen die anderen Mitgliedstaaten beistehen und zwar auch mit Waffengewalt. Ein Beitritt zur Nato ist aufgrund dieser Beistandspflicht nicht mit der Neutralität vereinbar. Engere Zusammenarbeitsformen mit der Nato und ihre Vereinbarkeit mit der Neutralität können und sollen aber geprüft werden. […]
Wie müsste man die Neutralität neu definieren, damit man z.B. näher mit der Nato zusammenarbeiten oder Waffen in Kriegsgebiete liefern könnte?
Ziel der Neutralität ist die Wahrung der Sicherheit und Unabhängigkeit der Schweiz. Die Neutralitätspolitik bietet gewisse Spielräume, wie die Neutralität zu verstehen ist, um dieses Ziel möglichst gut zu erreichen. Das Neutralitätsrecht hingegen ist Teil des Völkerrechts und kann nicht durch die Schweiz allein verändert werden. Würde die Schweiz in Zukunft enger mit der Nato zusammenarbeiten oder Waffen in bestimmte Länder liefern wollen, muss sie prüfen, welchen Spielraum die Neutralität zulässt, ohne dabei das Neutralitätsrecht zu verletzen und die Glaubwürdigkeit zu verlieren, als neutraler Staat wahrgenommen zu werden. Es stünde der Schweiz theoretisch auch frei, auf die Neutralität zu verzichten. Sie hat diese selbstgewählt und ist völkerrechtlich nicht dazu verpflichtet. […]
Welchen Einfluss hat der Entscheid auf die Guten Dienste der Schweiz? Wird die Schweiz weiterhin eine Vermittlungsrolle spielen können?
Ob der Entscheid einen Einfluss auf die Guten Dienste haben wird, wird sich zeigen.
Die Guten Dienste im Allgemeinen und die Mediation im Besonderen sind ein wichtiger Teil der Schweizer Aussenpolitik. Die Schweiz wird auch weiterhin dafür zur Verfügung stehen. Die Guten Dienste sind nicht die Raison d’Être der Schweizer Aussenpolitik und sie dürfen nie ein Feigenblatt sein. Die Schweiz vertritt im Rahmen ihrer unabhängigen Aussenpolitik ihre Interessen und Werte, wie sie in der Bundesverfassung verankert sind. Wir stehen für Frieden, Demokratie, Menschenrechte und das Völkerrecht ein. Daran kann es keine Abstriche geben.
Im aktuellen Konfliktfall ist zum jetzigen Zeitpunkt der Handlungsspielraum der Schweiz nicht sehr gross. Wir sehen uns mit einer flächendeckenden militärischen Aggression Russlands auf einen souveränen, demokratischen Staat konfrontiert, einer seit dem 2. Weltkrieg in Europa ungekannten Eskalation. Eine zentrale Rolle der Schweiz bei der Deeskalation und der Konfliktlösung ist unter diesen Umständen wohl nicht realistisch. Aber natürlich prüft die Schweiz, ob in Nischen Beiträge im Bereich der Guten Dienste möglich sind. Das muss aber diskret geschehen, sonst ist es von Vornherein chancenlos.
Kritischere Sicht der Schweizer Bevölkerung auf die Neutralität
Zwar steht die Schweizer Bevölkerung mit einer Befürwortung von 89% nach wie vor klar hinter dem Neutralitätsprinzip. Erstmals seit über 20 Jahren zeigt sich jedoch ein Rückgang bei der Zustimmung zur Schweizer Neutralität (–8 Pp [Prozentpunkte] im Vergleich zum Januar 2022). Allgemein wird die Neutralität deutlich kritischer betrachtet als in den letzten Jahren. So sind nur noch 58% der Schweizer und Schweizerinnen davon überzeugt, dass die Neutralität die Schweiz vor internationalen Konflikten schützt. Im Januar 2022 waren es noch 69%. Zunehmend als Hindernis für die Neutralität wird auch die internationale Verflechtung der Schweiz gesehen. 39% (+10 Pp) sehen deshalb Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Neutralität.
Verschiedene Einstellungen zur Neutralität
Frage: «Wie kann die Schweiz Ihrer Meinung nach am besten ihre Interessen wahren und gleichzeitig zur Sicherheit in der Welt beitragen?» Die angegebene Anzahl Personen (in Prozent) hat den folgenden Antwortmöglichkeiten entweder mit «sehr einverstanden» oder «eher einverstanden» zugestimmt:
Dunkelblau: «Die Schweiz sollte ihre Neutralität beibehalten.»
Orange: «Die Schweiz sollte bei politischen Konflikten im Ausland klar Stellung für die eine oder andere Seite beziehen, bei militärischen Konflikten aber neutral bleiben.» (Differenzielle Neutralität)
Hellblau: «Die Schweiz sollte bei militärischen Konflikten im Ausland klar Stellung für die eine oder andere Seite beziehen.» (De-facto-Aufgabe)
Konkrete Fragen:
Hat sich Ihre Einstellung zur Neutralität der Schweiz seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verändert? Wenn ja, inwiefern?
Welchen der folgenden Meinungen würden Sie (inwiefern) zustimmen/widersprechen?
«Die Neutralität kann die Sicherheit des Landes beeinträchtigen»
Interview mit dem Schweizer Militärhistoriker Bruno Lezzi in der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit»:
ZEIT: Halten Sie die Schweizer Neutralität denn noch für zeitgemäss?
Lezzi: Sagen wir es so: Die Neutralität ist für unsere Verteidigung nicht gerade eine günstige Rahmenbedingung. Wenn wir als Schweiz nämlich zum Schluss kommen, was wir eigentlich bereits im sicherheitspolitischen Bericht von 1993 taten, dass wir uns nicht allein verteidigen können.
ZEIT: Die Neutralität gefährdet also die Sicherheit des Landes?
Lezzi: So weit würde ich nicht gehen, aber sie kann sie beeinträchtigen. Andererseits dürfen wir nicht vergessen: Die Neutralität ist tief im Selbstverständnis der Schweiz verankert. Und wie immer braucht es hierzulande eine Mehrheit im Volk, um etwas derart Grundsätzliches zu verändern. […]
ZEIT: […] Anfang September verabschiedete der Bundesrat einen neuen Neutralitätsbericht. Die Verteidigungsministerin Viola Amherd sagte, sie wolle enger mit der Nato zusammenarbeiten und sogar den Verteidigungsfall gemeinsam üben lassen. Das gab es noch nie.
Lezzi: Die Absicht, militärisch enger mit anderen Ländern zu kooperieren, stand bereits 1993 im Neutralitätsbericht. Damals fürchtete sich Europa vor den Raketen aus dem Iran und erkannte: Es geht nicht mehr ohne die anderen. Aber die Schweiz sagte, auch das stand in diesem Bericht: Unsere Unparteilichkeit darf in einem Ernstfall nicht behindert werden.
ZEIT: Die Schweiz wollte sicherheitspolitisch halbschwanger werden.
Lezzi: So ist es. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Die genau gleiche Hohlformel steht im sicherheitspolitischen Bericht 2021. So gesehen hat sich, obschon die Lage viel ernster geworden ist, 30 Jahre lang nur wenig getan. Alles bleibt unbestimmt, alles geschieht unter dem Vorbehalt, im Ernstfall dann doch anders zu agieren. Das geht nicht!
ZEIT: Wieso?
Lezzi: Wenn man nur schon in einem Luftverteidigungssystem zusammenarbeiten will, bedingt das derart viel Einbezug in die gegenseitigen operativen Planungen, dass man sich der Kooperation im Ernstfall nicht einfach entziehen kann. Dazu kommen noch andere realitätsferne Ideen wie zum Beispiel, die Schweiz könnte an Übungen von raschen Eingreiftruppen der Nato teilnehmen.
ZEIT: Warum sind solche Ideen realitätsfern?
Lezzi: Weil das nun mal nicht mit der Neutralität kompatibel ist. Das sind Gedankenspiele von ein paar ahnungslosen und Thinktank-Researchern ohne Praxiserfahrung. Verteidigungsübungen der Nato, die unter den Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, den sogenannten Bündnisfall, fallen, bedeuten in der heutigen Lage eine Konfrontation mit Russland. Ein neutrales Land geriete damit in eine äusserst heikle Zwangslage […].
These von «Avenir Suisse», 2022
Nachdem die Schweizer Stimmberechtigten den Bundesbeschluss über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge in einer Volksabstimmung vom 27. September 2020 angenommen hatten, stellte die Denkfabrik «Avenir Suisse» eine These zur gesteigerten Effizienz dieser Neuanschaffung im Rahmen der ausgebauten transnationalen Zusammenarbeit auf:
These 2 – Luft: Mehr transnationale Kooperation für effizienten Kampfjeteinsatz
[…] Es ist plausibler, dass ein konventioneller Konflikt Europa als Kollektiv im Rahmen einer gemeinsamen Verteidigungsanstrengung betreffen wird, als dass sich die Schweiz alleine verteidigen müsste. Der tatsächliche Verteidigungsnutzen von Kampfjets hängt mit dem Ausmass der transnationalen Kooperation zusammen. Die transnationale Militärkooperation sollte ausgebaut werden, beispielsweise über eine Teilnahme an Nato-Übungen zur kollektiven Verteidigung. Die Kampfjet-Investitionen generieren einen höheren Nutzen, wenn die Schweiz sich stärker, aber neutralitätskompatibel in die kollektiven Nato-Strukturen einbindet. Es gilt daher, strategische und neutralitätspolitische Fragen zu klären. […]
Ob sich die Schweiz bei einer Intensivierung der Kooperation eher in Richtung EU oder Nato orientieren sollte, wäre Bestandteil einer solchen Neutralitätsdebatte. […]
Die Nato ist und bleibt für die Schweiz, wie für ganz Europa, die wichtigste kollektive Verteidigungsallianz. Die Schweiz nimmt zwar bereits an Nato-Übungen teil, jedoch hauptsächlich als Beobachterin und nicht mit Truppenkontingenten oder wenn darin die kollektive Verteidigung eingeübt wird. Eine Teilnahme an Nato-Übungen mit eigenen Truppen würde der Schweiz erlauben, das plausibelste konventionelle Szenario, die Verteidigung im Verbund, einzuüben. VBS und Bundesrat könnten überprüfen, inwiefern das Milizsystem für solche Kooperationsvorhaben ausreicht, oder ob es dafür vereinzelte Berufstruppen bräuchte.
Die Frage der Neutralität sollte ehrlich auf den Tisch gelegt werden: Die Neutralität findet erst dort ihre Grenzen, wo die Schweiz in internationale militärische Planungen involviert würde. Solange keine Beistandsverpflichtungen (Artikel 5 der Nato) eingegangen werden, ist solch ein Vorgehen kompatibel mit dem Neutralitätsrecht.
Oliver Diggelmann über Neutralität und Moral
Aus einem Interview mit Prof. Dr. iur. Oliver Diggelmann, Professor für Völker- und Staatsrecht an der Universität Zürich:
Das berühmte Diktum von Bruder Klaus: ‹Macht den Zaun nicht zu weit›, hört man heute vor allem noch von nationalkonservativer Seite.
Die Idee einer gewissen Abstandsgleichheit ist aber sicher generell breit getragen. Nicht nur von Nationalkonservativen. Das Grundproblem vieler Fragen rund um die Neutralität ist aber: Auch durch Abstandhalten kann man – bildlich gesprochen – in die politische oder moralische Schusslinie geraten. Abstandhalten ist ambivalenter, als wir in der Schweiz gemeinhin wahrhaben wollen. Wir neigen ja zum Schluss: neutral gleich gut.
Was ist falsch am Grundsatz des Distanzhaltens?
Ich sage nicht falsch. Sondern nur, dass die Sache komplizierter ist. Distanzhalten kann – grundsätzlich betrachtet – beides sein: ein Beitrag zur Deeskalation oder Komplizenschaft mit dem Bösen. Ich möchte das an einem Beispiel aus dem Leben einer Familie deutlich machen. Nehmen wir einmal an, ein Vater und eine Tochter streiten sich ständig, und die übrigen Familienmitglieder halten Distanz zum Konflikt. Sie begrenzen ihn und halten so zumindest unter sich Frieden. Wenn der Vater die Tochter aber missbraucht, und die übrigen Familienmitglieder sehen weg, um ihre Ruhe zu haben, so machen sie sich indirekt zu Komplizen des Vaters. Neutralität kann in extremen Situationen stillschweigende Zustimmung zu einem Verbrechen bedeuten.
«Neutrale Staaten sind nicht teilnahmslos»
Standpunkt von Prof. Dr. Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung «swisspeace»:
Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Schweizer Neutralität in Verruf geraten, stellvertretend für Teilnahmslosigkeit, Opportunismus und Feigheit zu stehen. Ja schlimmer noch, gewisse Verfechter der Neutralität sehen diese als Vehikel, um ihre pro-russische Haltung in diesem Krieg zu rechtfertigen. Viele Menschen wissen einfach zu wenig über die Neutralität. Andere wiederum missbrauchen sie für ihre eigenen politischen Zwecke. […]
Neutrale Staaten erachten die Mitwirkung an Kriegen nicht als geeignet, um ihre aussen- und sicherheitspolitischen Ziele zu erreichen. Neutralität hat jedoch nichts mit Pazifismus zu tun: Werden neutrale Staaten angegriffen, dürfen sie sich verteidigen.
Die Schweiz spricht von ‹bewaffneter Neutralität› und begründet damit auch ihre beträchtlichen Armeeausgaben. Die Neutralität steht auch der Teilnahme an Massnahmen der kollektiven Sicherheit nicht im Wege, also etwa an militärischen Sanktionen der Vereinten Nationen (Uno). […]
Unterschiede gibt es jedoch in der Neutralitätspolitik verschiedener Staaten, die für die Glaubwürdigkeit ihrer Neutralität sorgt. Sie können nicht einem Militärbündnis beitreten, weil sie damit Verpflichtungen eingehen würden, die im Kriegsfall denjenigen der Neutralität widersprechen. Ansonsten sind neutrale Länder in der Ausrichtung ihrer Aussenpolitik flexibel. Andere neutrale Staaten wie Irland oder Österreich sind Mitglieder der Europäischen Union und traten der Uno schon viel früher bei als die Schweiz. Neutrale dürfen zudem Wirtschaftssanktionen gegen Kriegsparteien verhängen, selbst wenn diese nicht von der Uno stammen. Die Schweiz tat dies in den 90er-Jahren gegen Serbien sowie kürzlich gegen Russland. Sie muss fallweise abwägen, wie stark sie sich positioniert, um ihre aussenpolitischen Ziele zu erreichen.
Als Ausgleich zur militärischen Abstinenz begünstigt die Neutralität humanitäre Leistungen und die Vermittlung zwischen den Konfliktparteien. Neutrale Staaten sind somit nicht teilnahmslos, sie bringen sich anders ein. Sie sind auch nicht feige, sondern beweisen Mut zur Abweichung und müssen sich dafür politisch rechtfertigen. Solange Kriege geführt werden, obwohl diese angesichts dringender globaler Probleme anachronistisch sind, bleibt Neutralität ein sinnvolles Konzept: Sie gründet im Völkerrecht und priorisiert friedliche Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte. Neutrale ergänzen die Rolle anderer Länder. Die Schweiz tut dies als Gastgeberin, Schutzmacht und Vermittlerin. Neutrale sind auch prädestiniert, um aktiv an der Weiterentwicklung der internationalen Ordnung mitzuwirken. Hierfür bietet die für 2023/24 anstehende Mitgliedschaft im Uno-Sicherheitsrat der Schweiz eine besonders gute Gelegenheit.
Wie geht’s weiter?
Entscheiden Sie sich nun für eine oder mehrere «konkrete Fragen» für die Podiumsdiskussion und bereiten Sie die Inszenierung vor.